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Der Dummling


Der Dummling war ganz froh, das riesige Haus seines Vaters verlassen zu dürfen, in dem er nur als Einfaltspinsel betrachtet wurde und niemand ihn ernst nahm.

"Was soll ich tun? Wohin soll ich gehen? Was würde mir Spaß machen?" fragte er sich selbst, denn sonst war niemand da, den er fragen konnte. An die Stricknadeln dachte er nicht mehr, denn er glaubte auch nicht richtig daran.

"Diese Stricknadeln sind wohl ein Zeichen, dass sich irgendjemand darüber gefreut hat, dass ich geboren wurde, aber sonst haben sie nichts zu bedeuten", überlegte er nun, da er sich für seine Handlungen nicht mehr rechtfertigen musste.

"Alle haben mich immer als Dummling betrachtet, jetzt möchte ich auch eine richtige Dummheit machen", fuhr er in seinen Gedanken fort. Aber wen konnte er ärgern? Sein Vater war unangreifbar, seine Mutter hatte er zu lieb, seine Brüder waren fort, und jemand von der Dienerschaft? Das reizte ihn nicht. Außerdem wusste er nicht, ob der eine oder andere nicht doch auf seiner Seite war.

"Ich versuche herauszufinden, ob es Salige gibt", beschloss er.


Salige sind empfindlich. Man darf sie beispielsweise nicht beim Namen nennen; da werden sie böse.

"Ich gehe in die Berge, um Rübezahl zu finden", beschloss Dummling.

"Rübezahl ist der Herr der Berggewitter. Er ist groß und stark, und wenn er auch gefährlich ist, so hilft er zuweilen doch armen Leuten. Es ist mein Abenteuer; vielleicht ein gefährliches Abenteuer, vielleicht ein Wegweiser".

Denn trotz seiner Jugend und trotz seiner Verwirrtheit hatte der Dummling noch immer die Idee eines lebenswerten Lebens, die Idee von Verantwortlichkeit und Nützlichkeit und den Willen, die Schönheit des Lebens zu suchen und zu erkennen.



Und Dummling machte sich auf den Weg. Er ging in Richtung Berge durch etliche Dörfer. Da traf er noch Menschen; nicht so viele wie in der Stadt, aber die Dörfer waren bewohnt.


"Wo gehst du hin?" fragte ihn eine Hausfrau, die er um Brot gebeten hatte.

"Ich gehe zu Rübezahl, um ihn um Rat zu bitten", antwortete der Jüngling.

"Wenn du ihn triffst, frag ihn doch, wie er Sauerteig macht, denn er ist auch der Herr des Sauerteiges."

"Ja", erwiderte Dummling. "Wenn ich Rübezahl treffe, werde ich ihn das fragen."


 

Und er ging weiter. Die Gegen wurde wild und felsig. Auf verwilderten Wiesen wuchsen junge Erlen, Eschen und Unterholz; dazwischen Farne und Diesteln. Menschen traf er keine mehr. Plötzlich hörte er ein raues, nasales „wah, wah, wah“, begleitet von eine Reihe von rasselnden und gutturalen Lauten.

"Das gibt es doch nicht!" dachte der Dummling, denn „wah, wah, wah“ ist der Warnruf eines

Diademhähers. Der Diademhäher aber ist eine Häherart Nordamerikas.

Zunächst fragte er sich, wovor der Diademhäher warnte. Da flatterte ein Schwarm Raben auf und flog ins entfernte Dickicht. Ja, natürlich, der Diademhäher ist mit den Raben verwandt.


Dummling wusste all das, denn er hatte viele Bücher gelesen und dazu im Internet gesurft. Da alle ihn für dumm hielten und niemand sich mit ihm beschäftigen wollte, hatte er dazu Zeit.


Und da sah er den Diademhäher auch schon. . Der Schnabel war lang und schmal und die Haube ausgeprägt. Das Gefieder war an Kopf, Kehle, Brust und oberen Rücken schwarz, an Bauch, Rumpf, Schwanz und Flügeln dunkelblau gefärbt. An der Stirn befanden sich weiße Streifen, und er hatte einen weißen Überaugenstreif. Die Handschwingen und der Schwanz wiesen dunklere Querstreifen auf. Er musste aus dem Süden des amerikanischen Verbreitungsgebiets kommen, denn seine ganze Figur wirkte bläulich.

"Wo kommst du denn her?" fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten.

Aber der Vogel antwortete: "Es geht dich eigentlich nichts an, aber der Herr des Sturmes und der Gewitter hat mich hergefegt."

"Meinst du Rübezahl?"

"Ja, gerade den."

"Zu dem will ich hin. Weißt du, wo er zu finden ist?"

"Nicht genau. Er hat mich hergeweht und sich dann nicht mehr um mich gekümmert. Aber du musst da irgendwo auf den Berg hinauf gehen."

"Aha!"

"Wenn du ihn triffst, frag ihn, wie ich wieder zurück komme!"

"Ja, das werde ich tun."

Der Dummling ging weiter; plötzlich stolperte er. Er dachte erst, dass er über eine Wurzel gestolpert war, aber dann sah er, dass es Puck war. Puck war zwar ein irischer Kobold, aber er tummelte sich auch ganz gerne im Rest der Welt.

"Warum musst du gerade mich tratzen?", fragte der Dummling. "Hilf mir lieber!"

"Deine Probleme sind mir zu hoch", antwortete Puck. "Da foppe ich dich lieber. Das ist immer noch besser, als wenn ich dich ignoriere. Das Schlimmste, das man einem Menschen antun kann, ist, wenn man ihn ignoriert."

"Ja," sagte der Dummling. "Das habe ich erfahren. Aber wenn du den Milchmädchen die Milch sauer werden lässt und den Wanderer in die Irre führst und mich über eine Wurzel stolpern lässt... ich weiß nicht...?- Weißt du, wo Rübezahl ist?"

"Natürlich weiß ich, wo Rübezahl ist. Er ist mein Onkel. Und Milchmädchen gibt es heute nicht mehr."

"Du weißt schon, wie ich das meine. Was heißt, Rübezahl ist dein Onkel? Du kommst aus Irland und Rübezahl ist ein Unirdischer des mitteleuropäischen Gebirges."

"Wir sind eben international."

"Also wo ist er?"

"Dort oben!"

"Soll ich ihm etwas ausrichten oder ihn etwas fragen?" fragte der Dummling in Erinnerung an die Hausfrau und den Diademhäher.

"Nein, nein. Mir geht es gut, und Rübezahl ist Berge über mir. Er braucht meine Grüße nicht."

"Aber inwiefern seid ihr euch ähnlich?"

"Er äfft die Großen, und ich nasführe die Kleinen. Er ist Herr über Wind und Wetter und ich über Wurzeln, he, he, he, he!"

Man hörte ihn schon fast nicht mehr, und wie sein Gelächter sich mit den Geräuschen des Waldes mischte, so verschwand seine knorrige Gestalt im Dickicht des Waldes.

"Aber Rübezahl ist auch der Herr des Sauerteiges", rief der Dummling noch, aber er hörte nur mehr das Säuseln des Windes.


Der Dummling ging weiter und bemühte sich, seine Füße zu heben. Denn er wollte nicht noch einmal schmerzhaft über eine Wurzel stolpern. Die Äste strichen ihm ins Gesicht, und er musste sich mühevoll durch das Unterholz werken, denn sogar die Trampelpfade hatten aufgehört. Noch war der Bewuchs dicht. Er fragte sich, ob er Rübezahl vor dem Ende der Waldgrenze treffen würde. Wahrscheinlich nicht, denn Rübezahl war der Herr des Sturmes. Unterhalb der Waldgrenze konnte er sich wohl nicht so austoben, weil die Bäume den Sturm bremsten.

Das Achtgeben auf pflanzliche Hindernisse automatisierten sich allmählich, und der Dummling dachte an seine Brüder. Er dachte an Rupert, der seine Suche wohl an so mancher Vergnügungsstätte unterbrechen würde. Wie alt war er? Wie lange würde ein solches Leben befriedigend für ihn sein. Und er dachte an Herbert, der im Fahrwasser von Rupert gondelte. Herbert würde wohl manchmal eine Stimmung anwandeln, dass das Leben doch mehr bereit halten müsste.

Unter einer Wurzel guckte aus einem Erdloch ein Mausbaby hervor. Es putzte sich die Schnurbarthaare seiner langgestreckten, spitzen Nase, so lang, dass es fast die Hälfte des kleinen Körpers ausmachte. Hinter einem Stück Moos, sodass der Dummling es erst auf den zweiten Blick erkannte, hing ein langer Mäuseschwanz hervor. Über dem Schnurbart vertrauensvolle, liebe pechschwarze Augen.

"Er weiß noch nicht, wie schrecklich die Welt sein kann," dachte der Dummling.


RUPERT UND HERBERT

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